HE FOR SHE

von Nadja Brachvogel. Gastspiel von Follow the Rabbit

Was passiert, wenn eine Frau feministische Themen durch ihren Mann verhandelt? Wenn jedes seiner Worte ihre Worte sind, jede seiner Handlungen ihren Anweisungen entspricht? Kann ein Mann eine Frau repräsentieren? Oder tut er das vielleicht sogar besser als sie selbst? In dieser Performance ist das Medium das Gegenteil der Message. Aber heißt es nicht, das Medium sei die Message? Es gibt keine zweite Chance für den ersten Eindruck. Oder hat da unser Verstand doch noch ein Wörtchen mitzureden? Was passiert, wenn Pode und Antipode miteinander verschmolzen werden? Fliegt alles in die Luft? Lassen sich Mann und Frau überhaupt unabhängig voneinander betrachten?

„He for She“ ist ein Gender-Experiment, eine Provokation für Männer wie für Frauen, eine psychosoziale Störaktion, die in unseren Erwartungshaltungen wühlt.

Nadja Brachvogel über ihre Arbeit an „He for She“

»Manchmal erschien es mir schon wie ein Running Gag: unser ominöses Projekt, an dem wir lange Zeit zunächst heimlich gearbeitet hatten und das wir mit diebischer Freude „Geheimprojekt Delta“ nannten. Es ging zunächst nur darum, einer verrückten Idee nachzuspüren: Was würde passieren, wenn Martin mich spielen würde? Aber ohne sich zu verstellen. Wenn er sich zu meinem Medium, zu meinem Sprachrohr machen würde? Wenn ich durch ihn über ihn sprechen würde? Über unser Verhältnis? Über mich und meine Lebenswelt als Frau, die eine andere ist als die seine?
An meiner Frauenwelt kann er niemals teilhaben, denn er steckt nun mal in seinem Martin-Brachvogel-Männer-Körper. Er hat mir seinen Körper, seine Stimme, seinen Habitus geborgt. Aber vor allem habe ich mir die Art, wie er wahrgenommen wird, geborgt: Attraktivität, Kompetenz, Status, alles. Ich wollte dem Frauenkörper für eine Weile entfliehen. Denn was erwartet man schon von einem Frauenkörper? Dass er „Frauendinge“ sagt, Dinge wie Gleichberechtigung, Frauenarzt und Slipeinlage. Ich wollte schauen, was mit diesen Inhalten passiert, wenn man sie in einen Männerkörper packt.
Jetzt kommt es mir fast vor, als könnte er mich viel besser repräsentieren als ich mich selbst... Aber das liegt vielleicht daran, dass ich eine Frau bin? Wie auch immer. Wir haben uns entschlossen, dieses seltsame Experiment zu veröffentlichen. Diese Gender-Verwirrung. Diesen maskulinen Ausdruck von Weiblichkeit. Dieses sehr persönliche feministische Manifest. Diese Liebeserklärung.«


 

Team

Repräsentant von Nadja Brachvogel: Martin Brachvogel

Regie und Text: Nadja Brachvogel

Kostüm: Ralph Heigl

Video: Andrea Schabernack

Technische Einrichtung: Moke Rudolf-Klengel

Outside Eyes: Victoria Fux, Monika Klengel, Verena Kiegerl, Christina Lederhaas, Dominik Müller, Sylvia Münzer

 

 

Kartenverkauf/Reservierungen:

https://shop.ticketteer.com/followthe_rabbit

Tel: 0316-673291

Eine Produktion von Follow the Rabbit in Zusammenarbeit mit dem Theater im Bahnhof

Wiederaufnahme Termine: 29. + 30. Juni, 02., 03., 04. Juli 2021, jeweils 20 Uhr

Homepages:

www.followtherabbit.info

Der STÜCKTEXT HE FOR SHE wurde im Rahmen von "Neustart Kultur" durch den Deutschen Literaturfonds im Programmbereich "100 neue Stücke für ein großes Publikum" gefördert. 

 

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He for She

ein dokumentarischer Essay von Nadja Brachvogel

 

 

ER: Repräsentant von Nadja Brachvogel

SIE: Nadja Brachvogel

 

Dauer: ca. 80 Minuten

 

Inhalt

Was passiert, wenn eine Frau feministische Themen durch ihren Mann verhandelt? Wenn jedes seiner Worte ihre Worte sind, jede seiner Handlungen ihren Anweisungen entspricht? Kann ein Mann eine Frau repräsentieren? Oder tut er das vielleicht sogar besser als sie selbst? In dieser Performance ist das Medium das Gegenteil der Message. Aber heißt es nicht, das Medium sei die Message? Es gibt keine zweite Chance für den ersten Eindruck. Oder hat da unser Verstand doch noch ein Wörtchen mitzureden? Was passiert, wenn Pode und Antipode miteinander verschmolzen werden? Fliegt alles in die Luft? Lassen sich Mann und Frau überhaupt unabhängig voneinander betrachten? „He for She“ ist ein Gender-Experiment, eine Provokation für Männer wie für Frauen, eine psychosoziale Störaktion, die in unseren Erwartungshaltungen wühlt.

 

Bühne

Die gesamte Rückwand dient als Projektionsfläche.

1 Stuhl

1 Wäschekorb

2 Beamer

 

Spielweise

Bis auf die dezidiert emotionalen Passagen wird ein ruhiger, sachlicher, hochpräziser Sprechimpetus angeraten.

Es kommen diverse Powerpoint-Folien zum Einsatz, die der Spieler mithilfe eines Presenters selber schalten sollte.

Dieser Text sollte mit der größmöglichen Ernsthaftigkeit und Hingabe wiedergegeben werden. Sarkasmus oder Zynismus sind nicht hilfreich.

 

 

 

 

ER in Unterhemd, Unterhosen und Socken sitzt auf einem Stuhl und stopft eine Strumpfhose. Neben ihm ein Wäschekorb mit Wäsche.

 

Das ist wirklich süß von Martin, dass er das für mich macht.

 

Ich hätte ja gar nicht die Geduld für sowas.

 

Aber Martin macht das gerne.

 

Hält eine gemusterte Strumpfhose hoch. Hier, die hier hab ich am liebsten.

Ist über zehn Jahre alt.

Sowas kriegt man nicht mehr. Sticht sich versehentlich.

 

Tausend Mal gestopft.

Vor allem hier: Oberschenkel Innenseite.

Gibt’s ständig Löcher.

Sehr nervig.

 

Hält aus dem Wäschekorb eine schwarze blickdichte Strumpfhose hoch.

Die hier könnte man nachkaufen…

Kostet halt.

 

Na ja, ich hab halt nach was gesucht, was für Hausarbeit steht.

Weil es ist so: Martin und ich haben einen Deal.

Er kümmert sich um den Haushalt, und ich mache die Buchhaltung und die Steuer,

und damit sind wir beide sehr zufrieden.

 

Unterbricht Stopfen, wendet sich ans Publikum.

Hallo, guten Abend, mein Name ist Nadja Brachvogel, ich bin 46 Jahre alt, und geboren wurde ich in Mainz, das ist in der Nähe von Frankfurt am Main.

 

Stopft weiter.

Meine erste Krise war die Pubertätskrise.

Und danach kam dann die Berufsfindungskrise,

dann kam die Partnerfindungskrise,

und danach kam dann die Studienkrise,

dann die suizidale Krise,

danach die Arbeitslosenkrise,

und dann die Arbeitsplatzkrise,

dann war ich anderthalb Jahre lang glücklich

vom Jahr 2000 bis zum Sommer 2001,

dann kam wieder die Arbeitslosenkrise,

dann hatte ich Arbeit, und es kam die Burnoutkrise,

dann kam die Trauerkrise,

und zuletzt kam dann die große Sinnkrise, und ein Ergebnis dieser großen Sinnkrise ist dieser Abend.

Stopft weiter.

 

Ich bin wirklich sehr aufgeregt,

also wirklich,

Ich sag das, weil im Theater ist ja normalerweise alles so tun als ob,

aber ich bin wirklich aufgeregt,

und wenn ich es nicht mehr wäre, würde ich es auch nicht mehr sagen.

Meine Aufregung hat verschiedene Gründe:

Zum einen ist dies meine erste Regiearbeit,

dazu noch eine Stückentwicklung,

und außerdem geht es hier um sehr persönliche Themen.

Und deshalb bin ich sehr aufgeregt.

 

Stopft weiter.

 

Ich steh auf Transformation.

Steh ich drauf.

Wenn man ein Problem hat, und man kriegt das nicht gelöst, und das kreist dann die ganze Zeit im Schädel, und es ändert sich nichts, und man grübelt nur noch,

dann kann man das Problem nehmen und auf eine Bühne geben und es dann irgendjemanden verhandeln lassen.

 

Nur dass es diesmal nicht irgendjemand ist, sondern mein Mann Martin.

 

Na ja, ich hab halt gedacht, das ist besser so.

Martin ist ein sehr guter Schauspieler, ER lächelt

und da habe ich mir gedacht, wenn das Ganze hier scheitern sollte, dann haben Sie wenigstens einen Abend lang einen sehr guten Schauspieler gesehen.

 

Beißt Faden ab, legt die Strumpfhose in den Wäschekorb und wendet sich ans Publikum.

 

In diesem Stück geht es um’s Leben, um mein Leben

als Beispiel für viele Leben,

es geht um’s Frausein,

darum, dass ich seit über zwanzig Jahren mit Martin zusammen bin,

darum, dass ich ihm vorher fünf Jahre hinterherlaufen musste, bevor er mich erhörte,

es geht darum, wie schön so eine Ehe sein kann,

und wir hart,

und um dieses Mann-Frau-Ding.

 

Ach ja: Und drei Aussagen in diesem Abend sind frei erfunden.

 

ER verlässt die Bühne.

 

Slide (wie Abspann, ca. 90 Sek.):

 

Das war jetzt der Prolog.

Als Nächstes kommt der Hauptteil.

Mein Mann zieht sich jetzt um.

Ich habe mir lange überlegt, was er tragen könnte,

denn das Kostüm ist wichtig.

Auch der Anfang war keine einfache Entscheidung.

Ich war z.B. wegen der Unterhose hin- und hergerissen.

Ich habe mich dann für eine Unterhose entschieden,

einfach weil er später eh nackt sein wird.

 

ER betritt die Bühne, trägt einen dunklen Anzug mit weißem Hemd, Krawatte und Business-Schuhen.

 

Ist das nicht interessant, was so ein Anzug aus einem Mann macht?

 

Es ist nicht das erste Mal, dass ich Martin vorschicke.

Er ist von uns beiden einfach viel mehr die Respektsperson.

Mir kommt auch vor, dass ihm die Leute viel besser zuhören als mir.

Als künstlerische Leiterin bin ich diejenige, die die meisten Entscheidungen trifft,

aber meistens ist es Martin, der sie kommuniziert.

Und nach treffe ich immer wieder auf Männer, die mir von vornherein die Kompetenz absprechen, einfach nur weil ich eine Frau bin.

Ist so.

 

Aber Martin meint, es läge nicht nur daran, dass ich eine Frau bin.

Er meint, ich sei auch eine „verschärfte Figur“.

Und als ich ihn fragte, was er damit meint, hat er’s mir aufgezählt:

Ich habe eine hohe Stimme,

ich bin hypersensibel,

ich bin fahrig und motorisch auffällig,

mir mangelt es an Klarheit, an Struktur und an der Verfügbarkeit des Gesprochenen,

und ich bin sehr klein.

 

Und das stimmt alles,

er hat recht,

und ich arbeite dran.

Ich habe mir diverse Bücher gekauft

über selbstbewusstes Auftreten und Rhetorik und sie auch alle durchgearbeitet,

und wann immer ich etwas öffentlich vortragen muss, bereite ich mich sehr ausgiebig darauf vor.

Ich gehe genau durch, was ich sagen werde, ich mache Entspannungsübungen, ich konzentriere mich, und ich mache Atem- und Stimmübungen, um meine Stimme zu senken, und während ich etwas öffentlich kommuniziere, achte ich darauf, dass meine Stimme niemals nach oben rutscht.

 

Und nun wird Ihnen Martin zeigen, wie es ist, wenn ich niese.

 

ER konzentriert, lockert sich und niest:

Brüllnieser

Quietschnieser

erstickter Nieser

rotzt sich beim Niesen versehentlich in die Hand

3-facher Nieser

kaut Kaugummi, verliert durchs Niesen den Kaugummi

 

 

So, und nun möchte ich Ihnen drei Bücher empfehlen,

 

Projektion

 

das erste Buch heißt „Charisma fällt nicht vom Himmel“, das ist von Georg Wawschinek, dieses Buch habe ich erst vor Kurzem durchgearbeitet während meiner großen Sinnkrise, und dieses Buch hilft einem, die Kluft zwischen dem Wunsch-Ich und dem Ist-Ich zu verkleinern, im Idealfall zu überbrücken, und dieses Buch hat mir geholfen, mehr zu mir und meiner Art und Weise zu stehen.

 

Projektion

 

 

Das nächste Buch kennen vielleicht einige von Ihnen, das ist ein Bestseller, es ist von Julia Cameron und heißt „Der Weg des Künstlers“, übersetzt hat es Ute Weber, dieses Buch gibt es schon sehr lange, was man auch daran sehen kann, dass der Titel nicht gegendert ist. Durchgearbeitet habe ich dieses Buch vor siebzehn Jahren während meiner ersten Arbeitslosenkrise, dieses Buch hilft einem zum einen, Kreativtechniken zu erlernen, denn Kreativität ist erlernbar, und zum anderen hat es mir geholfen, jeden künstlerischen Output von mir zu lieben – auch wenn er scheiße ist. Dieses Buch hat mein Leben verändert, ohne dieses Buch gäbe es keine Theatergruppe, und ohne dieses Buch würde Martin jetzt nicht vor Ihnen stehen.

 

 

Projektion

 

Als letztes: „Ja-aber was, wenn alles klappt?“ von Berthold Gunster in der Übersetzung von Monika Götze, das hab ich vor ca. fünf Jahren durchgearbeitet während meiner Burnoutkrise.

Es ist so: Ich mache jetzt schon seit fast zwanzig Jahren freies Theater, zusammen mit Martin, und als wir zusammen angefangen hatten, da hatten wir natürlich sehr wenig Geld, und es war viel Arbeit, und hatten allerdings die Hoffnung, dass es irgendwann einmal einfacher werden würde, dass wir uns etablieren, dass das Geld mehr wird und die Arbeit weniger, das hat sich nicht bewahrheitet, das birgt also ein großes Frustpotential, und dieses Buch hat mir geholfen, die Aspekte der Gegenwart als gegeben anzunehmen, die nicht veränderlich sind, und anstatt die ganze Zeit zu jammern, die Gegenwart zu umarmen und auch kreativ zu nutzen.

 

Projetkion: weiß

 

Aber Martin ist natürlich unschlagbar im Selbstbewussten Auftreten.

Er ist ein Mann,

und es ist empirisch belegt, dass Männern von vornherein mehr Kompetenz zugesprochen wird als Frauen, denn es ist ja nicht nur die Botschaft die Botschaft, auch das Medium ist die Botschaft, meistens noch viel wichtiger als die Botschaft selber.

Wenn Ihnen also ein 1,84 Meter-Mann mit einer wohlklingenden Stimme lieber ist als eine kleine Dicke mit hoher Frequenz, dann sollen Sie das auch bekommen.

 

So, und nun zeigt Ihnen Martin, wie ich gehe und mich anschließend stoße.

 

ER konzentriert, lockert sich, imitiert gewissenhaft ihr Gehen, stellt danach drei Situationen dar, in denen sie sich stößt und wütend das beteiligte Objekt schlägt.

 

Slides (automatisch Replik für Replik):

 

Duhuu, ich könnte dir da was erzählen,

was ziemlich Schlimmes,

was ich mal gemacht hab.

 

Oh Gott.

 

Aber es hat nichts mit dir zu tun.

 

Gott sei Dank.

 

Und es ist auch schon lange her.

Willst du es hören?

 

Nein.

Projektion: weiß

 

 

 

 

 

Ich bin nicht schön.

Ich weiß, so etwas sagt man nicht, aber ich meine das auch nicht autoagressiv, sondern ich meine das auf einer normativen gesellschaftlichen Ebene, also anhand einer gesellschaftlichen
Skala von Schönheit gehöre ich nicht zu den schönen Frauen,

und das ist okay für mich, ich stehe zu mir und meinem Aussehen.

Was mich allerdings nach wie vor sehr ärgert, ist, dass es immer noch Männer da draußen gibt, für die meine mangelnde Attraktivität eine persönliche Beleidigung fürs Auge darstellt, und diese Männer ruhen nicht,

bis sie mich wissen lassen, dass ich nicht zu den schönen Frauen gehöre.

Im Bus, auf der Straße ist es schon ab und zu mal vorgekommen, dass mir Männer zuriefen, ich sei hässlich.

Tatsache.

 

Martin hingegen ist schön,

und das Verrückte ist, er glaubt mir nicht!

Aber ich bin diejenige, die von anderen Frauen immer gesagt bekommt: „Du hast aber einen schönen Mann“, während Martin von seinen Kumpels nie so etwas über mich zu hören bekommt.

Also: Martin ist eindeutig der schönere von uns beiden.

Na?!

Ist das nicht fantastisch?! Eine unattraktive Frau, die einen schönen Mann abbekommt?!

Glück gehabt!

 

Und um meiner Freude Ausdruck zu verleihen, lasse ich nun meinen Mann ein wenig tanzen.

 

MUSIK: Walzer aus dem Ballett „Dornröschen“ op. 66 von Piotr Iljitsch Tchaikowsky

ER tanzt dazu ernsthaft enthusiastisch, sehr energetisch, sich verausgabend.

Direkt im Anschluss schaut ER – schwer atmend – auf:

 

Slides:

Was ist eigentlich das männliche Gegenstück zur Muse?

 

Muserich?

Slide: weiß

 

ER trocknet seinen Schweiß mit einem Handtuch, trinkt etwas Wasser, kommt zu Atem.

ER holt aus dem Wäschekorb einen BH, zieht ihn über sein Jacket an.

ER holt aus dem Wäschekorb zwei Paar zu Kugeln zusammengerollte Sneakersocken, tut sie in die Körbchen des BHs, geht zur Mitte der Spielfläche, zeigt sich, ruhig.

 

Das war ich mit elf Jahren,

die erste in der Klasse mit Busen,

das war sehr stressig,

und mein erster Busengrapscher, das war auf dem Pausenhof,

ein gleichaltriger Junge kam und griff mir mit beiden Händen an die Brüste,

sofortiger Heulkrampf.

 

ER geht zum Wäschekorb, nimmt zwei Paar Socken – zu Kugeln geformt – heraus und tut sie zu den anderen Socken in den BH, geht wieder zur Mitte.

 

Mit zwölf Jahren,

mein Stiefopa,

 

Zum Wäschekorb, zwei weitere Paar Socken, zur Mitte.

 

mit dreizehn Jahren,

auf der Konfirmandenfreizeit,

der Pfarrer,

 

Zum Wäschekorb, zwei weitere Paar Socken, zur Mitte.

mit sechzehn Jahren,

während des Schuhmacherpraktikums,

der Meister,

 

Während ER zum Wäschekorb geht und die beiden Strumpfhosen vom Anfang nimmt und sie zu den anderen Socken in den BH gibt:

 

Und in den folgenden Jahrzehnten kamen noch einige hinzu, meistens Kollegen,

so dass es summa summarum bis zum heutigen Tag zehn Busengrapscher sind.

 

Und wenn man das jetzt hochrechnet, angefangen mit elf Jahren mit meinen ersten Brüsten bis zum heutigen Tag, dann macht das durchschnittlich

 

Slide (bildfüllend): 0,286

 

0,286 Busengrapscher pro Jahr.

 

Geht eigentlich.

 

Ich mein, es ist nicht angenehm, aber trotzdem irgendwie erträglich.

 

Und es hätte schlimmer kommen können.

Vielen Frauen geht es wesentlich schlimmer.

 

Hat vielleicht damit zu tun, dass ich nicht so attraktiv bin.

Glück gehabt.

 

Ich hab mich nie gewehrt,

nicht mal was gesagt.

 

Macht mich das irgendwie

mitschuldig?

 

Warum so passiv?

 

Geschämt hab ich mich

für die grapschenden Männer.

Wirklich schade um sie.

Waren eigentlich ganz nette Kerle.

 

Immerhin: Mit zunehmendem Alter sinken die Chancen, begrapscht zu werden.

 

Während dem Folgenden zieht er den BH aus, tut ihn zurück in den Wäschekorb.

 

Slides (automatisch Replik für Replik):

 

Den Rest Suppe kann ich doch wegschmeißen.

Wieso? Wieviel ist es denn?

 

Naja, höchstens so´n Esslöffel.

Ich schmeiß das weg.

 

Echt?

 

Wieso, willst du das denn noch essen?

 

Ja.

 

Dann iss.

 

Doch nicht jetzt.

 

Dann schmeiß ich das weg.

 

Waas?!

 

Ja, was soll ich dann damit machen?

 

Nichts!

 

Nein, ich will das hier weghaben.

 

Ok, dann schmeiß halt weg.

 

 

So und jetzt versucht mein Mann Martin darzustellen, was er so von mir zu hören bekommt.

 

ER konzentriert, lockert sich, ahmt Nadjas Brachvogels Stimme nach, leichte Andeutungen von Körperlichkeit.

 

bettelnd: Darling, drehst du mir ‘ne Zigarette? Bitte!

 

laut rufend: Martin, bringst du mir ein Handtuch? Hier ist keins!

 

bettelnd: Ahh, mir juckt der Rücken. Kannst du mich da bitte kratzen? – Höher … noch ein bisschen höher … jetzt nach rechts … noch ein Stück … ein Stück nach links … jetzt wieder runter (lustvoll) Jaaa! Hier! Jaaa! Das ist guuut! Ahhh! Gut! Jaaa! Danke.

 

laut rufend, genervt: Martin! Der Toaster geht nicht. – Hab ich doch!

 

Also ich hab, äh, also ich les ja grad in dem Buch von der, äh, von der, na, äh, von der, na, äh, das Buch, na, sag doch!, äh, das Buch von, na, Frankreich und, äh, na, die Sartre-Frau, in dem, Simone de Beauvoir! Ich les also grad in dem Buch von der, von der Simone de Beauvoir, und, äh, das, äh, das finde ich wirklich krass, also ich finde das Buch gut, ich finde das, ich mag das Buch, es ist sehr kompliziert, aber ich finde das wirklich sehr, sehr, spannend und interessant, was da drin steht, aber das, äh, das, was ich jetzt gelesen hab, von der, äh, von der Beauvoir, äh, das find ich wirklich krass, und zwar schreibt die, ähm, krass!, schreibt die, dass die, äh, die… lange Pause Frau!, dass die, dass die, dass die Frau, wenn die, ähm, äh, äh, wenn die, ähm, also, wenn die, wenn die, wenn die schwanger ist, also wenn sie, also, äh, in der Schwanger… schaft…die… lange Pause …die Morgenübelkeit!, wenn die, also wenn die, wenn, wenn, wenn die schwangere Frau – wirklich krass! – äh, wenn, wenn die, äh, – also schreibt die Beauvoir – wenn die, wenn der morgens übel ist, dass, dass, dass, dass, das, äh, für die… lange Pause ...Frau! für die Frau, dass das ein Zeichen dafür ist, dass, dass, äh, dass sie das Kind nicht will!

 

Projektion (bildfüllend):

Das ist Granny. Granny ist ein Schwertwal, gehört zu den Orca, genauer: ist eine Orca-Kuh, und man sieht es ihr nicht an, aber Granny ist 85 bis hundert Jahre alt,und Granny besucht schon seit sehr langer Zeit jedes Jahr mit ihrer Familie die Salish Sea.

 

Projektion (bildfüllend): Die Erde

 

zeigt mit Laserpointer: Die Salish Sea ist genau hier, an der Grenze zwischen Kanada und den Vereinigten Staaten, um genauer zu sein...

 

 

 

Projektion (bildfüllend):

zeigt mit Laserpointer: … sieht man hier Vancouver, Kanada, und hier Seattle Washington, und dieser ganze rot umrandete Bereich, das ist die Salish Sea.

 

Projektion (bildfüllend):

 

Und diese Salish Sea besucht Granny mit ihrer Familie im Sommer

schon seit Jahrzehnten.

 

Und Granny wird schon seit den Siebzigerjahren beobachtet,

und deshalb weiß man auch, dass Granny seit ihrem vierzigsten Lebensjahr unfruchtbar ist, und das ist ganz normal für Orca-Kühe.

 

Wenn man das jetzt mit einem anderen Säugetier vergleicht, das auch recht alt wird,

 

Slide (bildfüllend):

mit einer Elefantenkuh, zeigt mit Laserpointer: da haben wir hier einerseits die Überlebensrate, das ist diese gestrichelte Linie, und diese durchgezogene Linie hier, das ist die Fruchtbarkeitsrate, und gemein haben die das Alter,

und da sieht man, dass Elefantenkühe bis kurz vor ihrem Tod noch fruchtbar bleiben.

 

Jetzt nehmen wir ein anderes Säugetier, das mit uns sehr viel gemein hat,

 

Projektion (bildfüllend):

 

ein Schimpansenweibchen, mit den Schimpansen teilen wir uns 98 bis 99 Prozent des Erbguts,

Laserpointer: hier wieder: die gestrichelte Linie ist die Überlebensrate, die durchgezogene Linie der Fruchtbarkeitsrate, da sieht man, dass Schimpansenweibchen bis zu ihrem Tod noch fruchtbar bleiben.

 

Jetzt zum Vergleich

 

Projektion (bildfüllend):

die Frau,

zeigt: eine sehr, sehr hohe Fruchtbarkeit ab der Geschlechtsreife, dann geht es bis Mitte zwanzig noch ein wenig bergauf, und dann geht es stetig bergab, und spätestens ab Mitte fünfzig kann eine Frau keine Kinder mehr bekommen,

und dann gibt es noch mehrere Jahrzehnte der Unfruchtbarkeit,

und über diese Phase wird sehr viel diskutiert in der Wissenschaft.

 

Man fragt sich, was diese Jahrzehnte der Unfruchtbarkeit aus evolutionärer Sicht bedeuten,

was für einen Sinn das macht,

denn Evolution bedeutet ja, dass die biologischen Aspekte einer Art im Laufe der Evolutionszyklen verdrängt werden, die verhindern, dass das Erbgut verbreitet wird.

Was also hat das (zeigt Phase der Unfruchtbarkeit) für einen Sinn aus evolutionärer Sicht,

und es gibt einige Stimmen, die sagen: gar keinen.

Das ist widernatürlich.

Und der einzige Grund, warum Frauen noch so lange leben, ist unsere Zivilisation,

medizinische Errungenschaften, vor 130 Jahren war das Durchschnittsalter einer Frau noch 45.

 

Und die Menopause bei den Menschen, das ist etwas ganz, ganz Außergewöhnliches, es gibt sonst fast keine Menopause unter den Säugetieren,

aber eben nur fast, und da

 

Projektion (bildfüllend):

 

kommt dann wieder Granny ins Spiel.

 

 

Projektion (bildfüllend):

zeigt mit der Hand: Orca-Kühe sind ab der Geschlechtsreife extrem fruchtbar, dann geht es ein bisschen bergauf und bergab, dann geht es rapide bergab, und ab durchschnittlich mit vierzig, fünfzig, spätestens mit sechzig sind Orca-Kühe unfruchtbar, und dann gibt es noch einige Jahrzehnte zu leben.

Und Orca-Kühe verfügen nicht über eine fortschrittliche medizinische Versorgung.

Das heißt, das hat einen evolutionären Grund.

Und deswegen wird Granny auch so genau beobachtet.

 

Und die Antwort auf die Frage nach dem evolutionären Sinn dieser langen Phase der Unfruchtbarkeit ist:

Matriarchat.

Orca leben in einem Matriarchat.

In Jahren von Futterknappheit, z.B., übernimmt Granny die Führung der Familie und führt die Familie aufgrund ihrer Erfahrungswerte an Orte, wo die Chancen höher sind, Futter zu finden.

 

Matriarchat.

 

 

 

 

 

 

Projektion (Replik für Replik):

 

Irgendwie schmeckst du salzig.

 

Oh, tut mir leid.

 

Was?

 

Ich glaub,

du hast ein bisschen Rotze abbekommen.

 

Ohh Gott, ist das widerlich!

 

(putzt sich die Nase)

 

Das kommt ein bisschen spät, die Aktion.

Findest du nicht?

 

 

Projektion: weiß

 

Leise aber intensiv weinend, sich fast zärtlich die Wand entlangtastend, bewegt er sich langsam von vorne rechts über die rechte Wand, die Hinterwand und schließlich die linke Wand nach vorne links.

 

 

Meine Oma war in meinem Alter, als sie Oma wurde mit mir.

Für mich ist es unvorstellbar, jetzt Oma zu sein.

Meine Großeltern haben mich großgezogen, waren meine Eltern,

und davor haben sie unter ärmlichen Verhältnissen drei Kinder großgezogen.

Und trotzdem waren beide überglücklich, als ich in ihr Leben trat.

 

 

Projektion

 

 

Mein Opa…

 

Projektion

 

...war Hobbyfotograf und -filmer – anfangs Super 8 und dann Video –,

und ab dem Zeitpunkt, wo ich bei meinen Großeltern lebte, gab es nur noch ein einziges Hauptmotiv.

 

Projektion

Ich liebte meine Oma,

einfach nur, weil sie meine Oma war, ...

 

Projektion

...und meine Oma liebte mich, einfach nur, weil ich ich war.

 

Sonst ist ja immer alles Leistung.

Auch Beziehung ist Leistung.

Wenn Martin und ich nicht mehr richtige Beziehungsarbeit leisten,

dann ist es gut möglich, dass wir uns eines Tages trennen.

 

Die Liebe...

Projektion

 

...zwischen einer Tochter und ihrer Mutter,

die ist bedingungslos.

 

Projektion

 

Und sie hält ewig.

Also, so stelle ich mir das zumindest vor.

 

 

Projektion (bleibt im Folgenden):

 

Ein Moment in unserem Leben,

in dem mich Martin sehr enttäuscht hat.

 

Wir lebten zu der Zeit schon in Graz,

ich war aber in Mainz, alleine, zu Weihnachten, um meine Oma zu besuchen, sie lebte zu der Zeit schon im Altersheim, und im Laufe meines Besuchs verschlechterte sich der Gesundheitszustand meiner Oma, und ich blieb noch,

und letztlich war ich dann anwesend, als meine Oma starb.

 

Und meine Oma war eine Stunde tot,

und ich ging in die leerstehende Wohnung eines Freundes, die er mir zur Verfügung stellte und rief Martin an,

und Martin war zu der Zeit in Saarbrücken und führte dort zum ersten Mal Regie außerhalb der Theatergruppe, und entsprechend war er sehr aufgeregt.

Und ich konnte ihn erreichen, und er war sehr fürsorglich, und er konnte mich auch ein wenig beruhigen, und so haben wir noch wenig weiter miteinander gesprochen, dann ging so allmählich das Gespräch dem Ende entgegen – es war so ca. 23:00 Uhr –, und ich wollte gerade auflegen, da sagte dann noch Martin:

„Solltest du versuchen, mich mitten in der Nacht anzurufen, dann werde ich wahrscheinlich nicht abheben.“

 

Das machte mich sprachlos, und es erschreckte mich auch.

 

Projektion: weiß

 

ER holt aus dem Wäschekorb ein Hochzeitskleid, geht zur Mitte, hält es vor sich.

 

Das ist mein Hochzeitskleid,

das hat mir mein bester Freund genäht.

Hier, der BH ist eingearbeitet,

 

schlüpft hinein

 

aber den BH sieht man gar nicht,

denn das Kleid ist zweiteilig,

 

geht zum Wäschekorb, holt zweiten Teil des Kleides, geht zur Mitte, wirf ihn über

 

so,

hier, die Ärmel (zeigt sie),

hier eine Schleppe (zeigt sie),

 

während ER zum Wäschekorb geht, ihn heraus holt und zur Mitte geht:

 

und beim Schleier dachten wir uns,

wenn schon, denn schon,

vier Meter

 

zieht den Schleier an

 

Und gefeiert haben wir…

 

 

 

 

 

Projektion

 

… hier, in einem Schloss, in Belgien, das haben wir für eine Woche gemietet,

und die Kosten haben wir uns mit den Gästen geteilt,

und am Tag der Zeremonie hatten wir viele Stühle hier im Park (rechts) aufgebaut,

und die waren alle in die Richtung (rechts) gerichtet,

und da war eine Lücke in der Mitte zwischen den Stühlen,

und da führte dann ein langer Teppich von da (Bootssteg) bis vor die Stühle,

und den Teppich gab es schon im Schloss – lila,

und am Anfang des Teppichs wartete ein sehr guter Freund von uns, der kann sehr gut Akkordeon spielen, und auf ein Zeichen, fing er an, “Pomp and Circumstances” zu spielen, vermischt mit dem “Star Wars”-Thema.

Und als wir das hörten, zeigt links auf den Burggraben sind Martin und ich losgerudert, also besser: Martin ist gerudert, und ich saß im Boot, und da sind wir dann entlang gerudert, dieser Brunnen war zum Glück abgeschaltet, soweit hatten wir gedacht,

und während wir fuhren, löste sich das Ende des Schleiers aus dem Boot und geriet so ins Wasser, und wir zogen das so durchs Wasser, und am Ende war der Schleier voller Entenscheiße,

und dann kamen wir hier an diesem Steg an,

und Martin kam noch ganz gut aus dem Boot heraus,

aber ich mit diesem Kleid und dem langen Schleier wäre fast ins Wasser gefallen, aber nur fast, ich hab’s auch rausgeschafft,

und dann sind wir zu unserem Freund dem Akkordeonisten, und da wartete auch schon die Tochter meiner besten Freundin, und sie hatte so ein kleines Eimerchen, und da waren lauter Gänseblümchen drin, und dann sind wir zu der Musik auf dem Teppich an unseren Freunden vorbei – die standen Spalier an dem Teppich – bis nach vorne vor die ganzen Stühle, wo dann die Zeremonie begann.

 

Geht mittig vor die hintere Wand, drapiert alles zurecht, beugt die Knie, hält die linke Hand, als halte er eine andere, geht sehr langsam mit glückerfülltem Gesicht, hin- und herblickend, „Pomp and Circumstances“, vermischt mit dem „Star Wars“-Thema singend, nach vorne.

Dort angekommen, geht er nach hinten,

 

Projektion: Ein Moment in unserem Leben,

in dem mich Martin noch mehr enttäuscht hat

(4 Jahre später).

 

 

legt Kleid und Schleier in den Wäschekorb, holt den Stuhl und setzt sich mit dem Rücken zum Publikum in die Mitte der Bühne.

 

Hallo, Martin.

 

 

Projektion: Hallo. Na?

 

Du, mir geht es gar nicht gut.

 

Projektion: Och. Warum denn?

 

Ich weiß nicht wie ich es sagen soll. - Ich zweifle so sehr… ach, Gott… ich …. ich. Martin ich trau mich kaum das auszusprechen.

 

Projektion: Was denn?

 

Es ist wegen dem Kind.

 

Projektion: (Tiefes Einatmen)

 

Ich glaub… das war alles falsch. Wir hätten uns mehr bemühen sollen Wir waren zu feige. Ich mein, das wir kein Kind bekommen haben.

 

Projektion: Hä?

Wie kommst du jetzt darauf?

 

Jaa, wie soll ich sagen. Ich muss immer an den ----- denken. Ich find es krass, dass selbst er sich ein Kind wünscht. Und ich denke mir, wenn er Kinder kriegen kann, warum können wir es dann nicht. – Und ich denk mir. Ja – wenn selbst er – warum kriegen wir das denn nicht hin. – Bist du noch dran?

 

Projektion: Ja. Oh Mann.

Boah, damit kommst du mir jetzt.

 

Jaa, ich weiß. Tschuldigung. Aber mir geht das nicht aus dem Kopf.

 

Projektion: Nadja.

 

Ich muss da immer dran denken. Warum sind wir nur so feige?

 

Projektion: Ich fasse es nicht,

dass du nach der tollen Woche

plötzlich auf das kommst.

 

Tut mir leid. Es geht mir einfach so mies.

 

Projektion: Und dann dieser Typ, der -----.

Was haben wir mit ----- zu tun?

Was hat sein Leben mit unserem zu tun?

Das kann man doch gar nicht vergleichen.

 

Ich finde schon, dass kann man vergleichen. – Sag doch was!

 

Projektion: (Tiefes Einatmen)

 

Ich mein, vielleicht sollten wir doch zu nem Arzt gehen.

 

Projektion: Ich will kein Kind.

 

Was?! Das hast du vorher nie so gesagt!

 

Projektion: Ich hab nie gesagt,

dass ich ein Kind will.

Das ging immer nur von dir aus.

 

Wimmern

 

Projektion: Puh. Ich pack das jetzt nicht.

 

weinend: Ich hab so Angst, wenn du stirbst. Dann bin ich alleine.

 

Projektion: Tut mir leid. Puh.

Ich pack das nicht.

weint

 

Slide: Das überfordert mich gerade total.

 

weint

 

Projektion: Vor allem dass du nach dieser

tollen Woche plötzlich so drauf

bist. Das schockt mich auch

irgendwo, ganz ehrlich gesagt.

 

Ich bin so verzweifelt, Martin! langes Wimmern

 

Projektion: Hör mal.

Ich weiß, du hörst das nicht gern,

aber glaubst du nicht, das hat was

mit deinen Tagen zu tun?

 

 

Nein hat es nicht!!! Das kotzt mich jetzt total an, dass du immer alles auf meine Tage schiebst!

 

Projektion: Aber es ist doch oft so, Nadja.

 

Jetzt lenk nicht ab. Ich hätte es gerne probiert mit dem Arzt.

 

 

Projektion: Ich aber nicht.

 

Wimmern

 

Projektion (Abspann): Es tut mir leid.

Ich kann es mir nicht vorstellen.

Bei der Vorstellung, wir hätten ein Kind, könnte ich verzweifeln.

Wir haben so einen Stress.

Tut mir leid, aber ich würde durchdrehen.

Ich lauf jetzt schon am Limit.

Und du auch!

Mit einem Kind hätte ich gar keinen Raum mehr für mich.

Wie soll das denn gehen?

Wie stellst du dir das vor?

 

– Ja. Stimmt schon. Aber man passt sein Leben doch dem Kind automatisch an.

 

Projektion: Im freien Theater arbeiten können wir dann vergessen.

 

Ja, aber es gibt noch andere Leute in der freien Szene, die Kinder haben.

 

Projektion: Ja, aber die haben auch alle

Familie vor Ort.

Die werden alle von ihren Eltern

unterstützt.

Wir haben NIEMANDEN.

 

Du führst jetzt ganz viele Gründe auf. Und es stimmt ja auch, was du sagst. Aber wenn man wirklich ein Kind will, dann schafft man das auch.

 

Projektion: Ja, aber ich will kein Kind.

 

Weinen

 

Projektion: Es tut mir leid, Schatz.

 

Weinen

 

 

Projektion: Ich versteh das auch nicht.

Das war doch die ganzen Monate

kein Thema.

 

weinend: Es war bei mir immer Thema! Du wolltest nur nie darüber sprechen! verzweifelt: Ich hab alles falsch gemacht.

 

 

Projektion: weiß

 

Martin meint, dass diese Szene ungerecht wäre. Ungerecht, weil sie nur meine Perspektive zeigt. Das stimmt auch. Aber so ist dieser Abend. An diesem Abend gibt es nur eine Perspektive, und das ist meine.

 

Und ich bin sauer auf Martin,

sauer auf sein jahrelanges Schweigen zum Thema Kind,

sauer darauf, dass immer ich diejenige sein musste, die das Thema anspricht,

 

und jetzt steht er da

und muss dieses Stück spielen.

Vielleicht als Strafe.

 

Ich liebe dich, Martin. Ich kann nicht ohne dich. (geht ab).

 

 

Projektion (automatisch Zeile für Zeile):

 

Bin ich schwach?

 

Habe ich verloren?

 

Hätte ich mich durchsetzen sollen?

 

Hätte ich mich trennen sollen?

 

Werde ich meine Entscheidung bereuen?

 

Bin ich emanzipiert?

 

Ist Martins Verhalten typisch Mann?

 

Ist mein Verhalten typisch Frau?

 

Führen wir eine glückliche Ehe?

 

 

(bildfüllend): Hier endet der Hauptteil.

 

Martin zieht sich jetzt wieder um.

 

Es folgt Epilog 1:

 

DIE VULVA

 

Auftritt in einem Vulvakostüm, das bis hinunter zur Hüfte reicht. Sein Kopf befindet sich auf Höhe der Klitoris. Seinen Penis verdeckt ER im Folgenden durch eine Aufgeschlagene Hardcover-Ausgabe von Simone de Beauvoirs „Das andere Geschlecht“.

 

Projektion: weiß

 

Ich habe mich immer gefragt, was das ist: eine starke Frau.

 

Eine starke Frau, denke ich mir, ist beim Sex immer oben,

eine starke Frau hat eine starke, trainierte Vulva, mit der sie Gewichte heben kann,

eine starke Frau hat keine Hemmungen, ihrem Partner zu sagen, was sie beim Sex will,

z.B. dass es viel schöner ist, so streichelt sanft die äußeren Schamlippen des Vulvakostüms zu machen

 

oder so streichelt sanft die inneren Schamlippen,

 

anstatt die ganze Zeit immer nur so reibt sehr lange sehr intensiv und monoton seine Stirn.

 

Und nun liest mein Mann Martin aus Simon de Beauvoirs „Das andere Geschlecht“.

 

ER hebt das Buch vor sein Gesicht.

 

Er wird Ihnen jetzt ein wenig Gelegenheit geben, sich an den Anblick zu gewöhnen. Sie können ruhig auf seinen Penis schauen, wir haben darüber geredet, es macht ihm nichts aus.

 

 

Auf Seite 224 steht: „Der Knabe vergleicht ihn übermütig mit dem seines Spielgefährten; seine erste Erektion erfüllt ihn gleichzeitig mit Stolz und Schrecken. Der erwachsene Mann betrachtet sein Geschlecht als ein Symbol der Entfaltung und der Macht, er ist stolz auf diesen quergestreiften Muskel, doch ahnt er auch seine Hinterlist: dieses Organ, durch das er sich bestätigen will, gehorcht seinem Willen nicht, bekundet ein unheimliches, launenhaftes Eigenleben. Das Geschlecht des Anderen bietet leicht Stoff zum Lachen; auch die Erektion gibt Anlaß dazu, weil sie zwar wie eine bewußte Bewegung erscheint, aber doch unwillkürlich ist, auch schon das bloße Vorhandensein der Genitalien braucht nur erwähnt zu werden, um sogleich Heiterkeit zu erzeugen.“

 

 

 

 

 

 

 

Auf Seite 367 steht: „Alles trägt dazu bei, in den Augen des kleinen Mädchens die Rangordnung zu bestätigen. Ihre geschichtliche, ihre literarische Bildung, die Lieder, die Märchen, mit denen man sie einwiegt, sind eine Verherrlichung des Mannes: Männer haben Griechenland, das römische Weltreich, Frankreich und alle Nationen geschaffen, sie haben die Erde entdeckt und die Werkzeuge erfunden sie auszubeuten, sie haben sie regiert, mit Statuen, Gemälden, Büchern bevölkert. Die Kinderliteratur, Mythologie, Märchen, Erzählungen, spiegeln die Mythen wider, die vom Stolz und den Wünschen der Männer geschaffen wurden. Mit den Augen dieser Männer erforscht das kleine Mädchen die Welt und enträtselt in ihr sein Schicksal. Die männliche Überlegenheit ist erdrückend: Perseus, Herkules, David, Achilles, Lancelot, Napoleon; wie viele Männer kommen auf eine Jungfrau von Orleans.“ senkt das Buch

 

Stark vereinfacht lautet der derzeitige Kanon der Gender-Wissenschaften,dass alles ein Konstrukt ist.Mann, Frau: beides ein Konstrukt, Geschlecht ist ein Konstrukt,Werte, Schönheit: ein Konstrukt, Mutterschaft: ein Konstrukt.

 

Nur Martins Penis, der ist kein Konstrukt,

der hängt ganz real zwischen seinen Beinen,

aber er ist ein Symbol,

ein Symbol für das Patriarchat,

so wie alles für das Patriarchat steht.

 

Der Staat, in dem wir leben, ist Patriarchat,

seine Gesetze sind Patriarchat,

[Bundesland], [Spielort: Stadt]: beides Patriarchat,

Straßen und Wege sind Patriarchat,

Autos und Fahrräder: Patriarchat,

mein Wunsch, in weiß zu heiraten, ist Patriarchat,

dieses Gebäude ist Patriarchat,

dieser Raum, seine rechten Winkel: Patriarchat,

der Beamer ist Patriarchat,

auch sein HDMI-Kabel ist Patriarchat,

der Laptop ist Patriarchat,

Stühle sind Patriarchat,

Lippenstift ist Patriarchat,

die Heizung ist Patriarchat –

 

SIE tritt auf, idealerweise durch eine Tür. Sie ist klein, füllig und hat große Brüste. Sie trägt einem weißen, blickdichten, Morphsuit, der auch ihren Kopf komplett umhüllt, dazu rot glitzernde Plateauschuhe. SIE tritt in die Mitte der Spielfläche. ER stellt sich neben sie.

 

 

 

 

Projektion: Epilog 2:

 

 

 

Projektion (bildfüllend): ICH

 

(ER deutet auf SIE) Das bin ich.

 

Martin steht da noch, weil er unbedingt so eine Art Übergabe wollte. Er meinte, wenn er gleich nach dem Beauvoir-Text verschwinden müsste, wäre das lieblos, und er käme sich benutzt vor.

 

ER setzt sich in die 2. Reihe auf den Platz hinter dem Beamer und zieht sich den Bademantel an.

 

Projektion: schwarz

 

Videoprojektion aus Beamer 2: Projiziert wird auf IHREN Körper, d.h. die Projektion entspricht genau IHREN Umrissen. Zu sehen ist eine mehrminütige Collage von (auch bewegten) Bildern, die in immer schnellerer Abfolge Einflüsse auf das Leben von Nadja Brachvogel zeigt: Menschen, Filme, Schönheitsideale, typisch Hässliches, Anatomisches, Romantisches, Politisches, Kindliches, Feministisches, u.v.m.

Währenddessen hört man eine hochgepitchte Stimme mit folgendem Text:

 

„Guten Abend, hier spricht Nadja Brachvogel, es gibt da, äh, eine Kleinigkeit, die ich ganz gerne, äh, korrigieren möchte, mein Mann hat ja am Anfang des Stückes gesagt, ich wäre 46 Jahre alt, ähm, ehrlich gesagt, das war gelogen, ich bin nämlich in Wirklichkeit fünfzig Jahre alt, aber mir war es wichtig, äh, dass Sie im Laufe des Stückes nicht das Bild einer Fünfzigjährigen im Kopf haben. Ich bitte das zu entschuldigen und, äh, wünsche Ihnen ansonsten noch viel Spaß bei diesem kleinen Film, der jetzt gerade läuft, und schönen Abend noch.“

 

Auf das Ende der Videoprojektion folgt ein:

Black

 

 

ENDE